Kunstmaler und Karikaturist
Martial Leiter, zwei Lebensrichtungen bestimmen seinen Weg, zwei Seiten einer künstlerischen Begabung, die sich im grossen Ganzen wiederfinden. Einmal ist da der gesellschaftskritische Pressezeichner, ein profunder Karikaturist, ein Künstler, wenn es um die ironisch überzeichnete Darstellung gesellschaftlicher Zustände geht, denen er einen pointierten, durchaus auch provokant-spitzfindigen Unterton verleiht. 1952 in Fleurier im Val de Travers im Kanton Neuenburg geboren, wandte er sich schon bald nach einer Lehre zum Maschinenzeichner seiner grossen Leidenschaft zu – der Zeichnung. Bereits 1970 organisierte Martial Leiter erfolgreich seine erste Ausstellung in Fleurier, der Auftakt zur zeichnerischen Karriere. Noch im selben Jahr veröffentlichte er sein erstes Buch und begann als selbständiger Zeichner zu arbeiten. Zuerst experimentierte er mit Gravierungen und Lithographien, er illustrierte Bücher und wurde schliesslich Zeitungskarikaturist. Zwischen 1974 und 1990 erschienen seine Zeichnungen in zahlreichen Schweizer und ausländischen Zeitungen wie Courrier de Genève, Tagesanzeiger, NZZ, Wochenzeitung (WOZ); Le Temps, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Rheinischer Merkur und Le Monde. Nie wollte er einfach nur Karikaturist sein, und doch ist er einer der schärfsten Karikaturisten der Schweiz, wenn er mit feiner Feder die Sinnlosigkeit und Heuchelei unser Welt, jene Kräfte und Mächte der Finanzwelt und der Wirtschaft, die unseren Alltag formen und unterwandern, anprangert – mit grimmigem Humor, bitterer Ironie und einem treffsicheren Gespür für die Metapher, das anekdotische Bild.
Parallel dazu gehört seine zweite grosse Leidenschaft seit vielen Jahren, seit 1970, der Malerei und der Zeichnung, die er in der Schweiz und im Ausland ausstellt. Mit Pinsel und Tusche, in Schwarzweiss, und sonst nichts, mit grosszügiger Geste oder feiner Ziselierung, mit Kaltnadel und Radierung vertieft Martial Leiter – geprägt und geformt von der ausdrucksstarken Tradition der chinesischen Malerei der Song-Dynastie (960-1279) – die subtile Wirkung angedeuteter Natur- und Landschaftsphänomene, die Unermesslichkeit des Berges, die allegorische Körperhaftigkeit einfacher Lebewesen, situative Prinzipien, die der Künstler als globale Perspektiven vertieft.
Die Themen und Inhalte sind vielfältig, aus der Leere des Raums heraus entstandene Geschichten, eine sinnbildhafte Leere, aus der sich seine Bildgeschehen formen: die allumfassende Schönheit der Natur als weites Feld existentieller Fragen. Die Berge in all den sinnbildhaften Facetten, Silhouetten und Stimmungen, die Monumentalität des Steins, die Ruhe und die Grazie dieser Natur, das Insichruhende und Erhabene, wenn Martial Leiter die chinesische Geste mit der westlichen Landschaftsmalerei zur allgemeingültigen Philosophie vereint. Inspiriert aus frühester Jugend durch Erlebnisse in der Aura des Eigers, sind die Berge, ihre erratische Präsenz, Stärke und Anmut, ihr Mysterium Gegenorte für den Künstler. Gipfel und Grate, die Konsequenz von Wasser, Schnee, Nebel, Wind, Zeit, gepinselt, geritzt, gezeichnet – nur in Weiss-Schwarz nuanciert er die geologischen und atmosphärischen Texturen, Struktur um Struktur, Dramatisches um Theatralisches, Licht und Schatten der Welt.
Es ist diese Reduktion auf das Bild und den reinen Raum, auf die mit dem Pinsel energisch konturierten Kontraste von Schwarz und Weiss, die heftige oder sensible Geste, der befreite Duktus, mit denen Martial Leiter seine inhaltlichen Absichten differenziert. Da nimmt er mit seinen expressiven Kriegsrealitäten unweigerlich Bezug auf Goyas «Désastres de la guerre», die ebenso in den Bann ziehen und erschüttern. Gleichermassen bilden triviale Geschichten ein unerschöpfliches Feld der Kreativität und Kreatürlichkeit: Vögel, Krähen, schwarz, streng und radikal bis zur kalligrafischen Spannung konzentriert, Insekten, Spinnen, Fliegen, deren differenzierte Körperlichkeit in sublimen Vibrationen die Momenthaftigkeit des Humanen in der Reinheit der räumlichen Leere allegorisieren. Wie auch die zur Unwirklichkeit dahinziehenden Landschaften, Erinnerungen und Silhouetten sich auflösender Zivilisationen ein unerschöpfliches Reservoir bilden, das sich und den Künstler immer neu findet und erfindet.
Aber letztendlich verweisen die Dinge aufeinander, auf den Menschen. Denn der Berg ist auch der Berg, den man in sich trägt, Silhouetten der Natur als Schemen der Unermesslichkeit, die Bewegung des Bestiariums im freien Raum, nichts als das Leben, das aus dem Vakuum schöpft.
Eva Buhrfeind, Oktober 2019